Die therapeutisch duftende Kompetenzerfahrung oder aber: Der Minzenkuss!

Dies ist nicht nur ein Fallbericht, sondern auch ein Appetizer auf die in diesem Bulletin abgedruckte Originalarbeit von Abramovitz und Lichtenberg zum Thema Hypnotherapeutic Olfactory Conditioning (HOC). Nachdem ich das Paper vor einem Jahr im International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis 2009 entdeckte, habe ich in der Zwischenzeit verschiedene, überwiegend positive Erfahrungen mit fünf eigenen Patienten gemacht. Es geht um die Konditionierung einer mit positiven, erwünschten Emotionen einhergehenden Erfahrung mit einem Duft, deren Ergebnis mit einer emotional nicht erwünschten realen Situation therapeutisch überlagert wird. Dieses Vorgehen scheint sich als effizientes Adjuvans bei der Behandlung von Angstzuständen jeglicher Art zu bewähren.

Der Fall

Der mir überwiesene, 26-jährige Patient mit einer abgeschlossenen mehrjährigen Cannabis-Karriere leidet an einer mässig stark ausgeprägten Soziophobie. Diese macht sich nicht nur in öffentlichen Verkehrsbetrieben, sondern vor allem auch beim Zusammensein mit unbekannten Menschen bemerkbar. Der Grund, warum der Patient eine Psychotherapie beginnt, statt nur das von Hausarzt verordnete Propanolol einzunehmen, ist, dass er eine Zweitausbildung im sozialen Bereich begonnen hat und dabei – nicht ganz unerwartet – massiv stressende «Befindlichkeitsrunden» aufgetreten sind. Bei einer solchen «Befindlichkeitsrunde» komme es neben vegetativen Stresszeichen – er würde neben profusem Schwitzen mit den Händen die Tischkante derart umklammern, dass er diese angeblich für alle sichtbar zum Zittern bringe – zu derartiger Panik, dass der Patient kaum noch sprechen könne, wenn er dann «endlich dran komme». In der ersten Therapiestunde geht es neben dem gegenseitigen Kennenlernen bereits um die Vermittlung der Angst- und Stressphysiologie (Flipchart-Arbeit) und der Grundsätze der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) bei Angststörungen (Handout wird mitgegeben). Durch derart vermittelte Hausaufgaben soll in Form von Selbsterforschung, ohne im Alltag bereits etwas ändern zu müssen, eine gewisse stressreduzierende Dissoziation zur Angst wahrscheinlich werden. KVT: Wie viel Prozent der Aufmerksamkeit ist im sozialen Kontext innen und wie viel im Aussen, Aufspüren verzerrter Kognitionen, Erkennen von Sicherheits- und Vermeidungsverhalten. In der zweiten Stunde geht es um Repetition und Entspannung sowie Selbsthypnose. In der dritten mache ich zum ersten Mal den «Kossak-Approach», wie er 2010 von Hans-Christian Kossak selber in Balsthal in einem Workshop vermittelt wurde; ich habe dieses Vorgehen später in der Intervision von Susanne Balogh erlernt. Bis jetzt macht der intelligente, wenn auch etwas phlegmatische Patient sehr engagiert mit, setzt um und macht dadurch echte kleine Fortschritte. Er habe bei den Befindlichkeitsrunden nun das Mantra «die Panik geht vorbei» und er verliere nicht mehr vollständig die Kontrolle. In der vierten Stunde machen wir HOC, weil der vorderhand für mich noch etwas kompliziert wirkende Kossak-Approach von mir wahrscheinlich noch nicht 100 % perfekt und wirksam umgesetzt wird und mich HOC fasziniert. Ich erkläre zuerst die dahinter liegende Idee. Der Patient geht anschliessend in eine leichte Trance, um aus seiner Vergangenheit ein Erlebnis in die Gegenwart kommen zu lassen, welches «mindestens so kraftvoll sein soll, wie die Angst und der Stress bei der Befindlichkeitsrunde». Also nicht einfach nur ein Safe Place von Ruhe und Entspannung am Ferienstrand, sondern eine wirkliche Kompetenzerfahrung. Es ist bei unserem Patienten der wunderbare erste Kuss am Anfang der seit längerem nicht mehr gelebten Liebesbeziehung anlässlich einer lauen Sommernacht. Danach wählt er sich aus einer Vielzahl von Duftfläschchen, die ich vor ihm aufgebaut habe, repetitiv schnuppernd denjenigen Duft, der ihm am besten geeignet und würdig erscheint, mit dem Sommernachts-kuss in Beziehung gesetzt, sprich konditioniert zu werden. Es muss Minze sein! Die Kondi-tionierung wird fortan Küssen bei Minzenduft bedeuten. Meine Worte benennen in Trance die Kompetenzerfahrung und verweben sie gleichzeitig mit dem Duft, indem ich die Aufmerksamkeit des Patienten zwischen Liebessituation mit allen Sinnesmodalitäten und dem Minzenduft hin- und her pendeln lasse. Also in etwa – soweit ich mich noch erinnern kann: «Und während in Ihnen dieses wunderbare Gefühl in Ihrem Körper wieder aufsteigt, während es wirklich geschieht… dieses Gefühl von Wärme und Weite in Ihrer Brust… und diese Erfahrung mit Ihrer Geliebten zu verschmelzen…steigt der Duft von Minze in Ihr Bewusstsein und verbindet sich mit jeder Nervenzelle Ihres Gehirns…diese wunderbare Erfahrung von Gemeinsamkeit und Liebe… geliebt werden und selber lieben zugleich… vereinigt sich ganz intensiv und innig mit dem Geruch von Minze… und die Minze, die von Ihrer Nase her in Ihr ganzes Nervensystem strömt, wird zum Duft von Liebe, Wärme und Geborgenheit…und jedes Mal, wenn Sie Minze riechen, werden sie mehr und mehr, intensiver und verlässlicher, gleichzeitig diese wunderbare Erfahrung von Liebe, Wärme und Geborgenheit erfahren…». Dann nehme ich den Duft von der Nase weg und fordere den Patienten auf, langsam seine Augen wieder aufzumachen. Das Ganze wird dreimal wiederholt und dauert je zirka zwei bis drei Minuten. Bis zum nächsten Mal soll der Patient zu Hause mit dem Duft die Konditionierung üben. Bei der nächsten Sitzung wäre nun die Exposition in sensu und anschliessend die Exposition in vivo im Alltag angesagt. Aber der Patient hat nicht geübt, er habe in diesen Wochen wenig Stress im Alltag und angeblich auch wenig Zeit zum Üben gehabt und er glaube auch nicht so recht an dieses Ding da mit dem Fläschchen. Wir besprechen in dieser Sitzung für den Patienten Wichtiges und repetieren unter anderem auch HOC. In der folgenden Sitzung breitet sich auf seinem Gesicht ein Schmunzeln aus, kaum hat er Platz genommen, und er berichtet folgendes: Da habe er sich kürzlich doch sorgfältig ein leeres Viererabteil im Zug ausgesucht, worauf sich im bereits fahrenden Zug doch tatsächlich noch jemand in sein Abteil schräg gegenüber gesetzt habe. Er habe zu schwitzen und zu zittern begonnen, habe bereits an Flucht – pardon, an Vermeidungsverhalten – gedacht und… sei plötzlich zunehmend ruhiger und ruhiger und entspannter geworden. Was ist geschehen? Sie erahnen es vielleicht, liebe Leserin, lieber Leser? Der ungebetene Mitreisende brachte nicht nur Stress sondern auch gleichzeitig dessen Auflösung mit sich, denn, er kaute einen Kaugummi und zwar einen mit Minzengeschmack! Der Patient berichtete, er würde nun seither kurz vor stressigen Situationen regelmässig – zu meinem diskreten Ärger nicht das von mir favorisierte Minzearoma-Fläschchen benützen, sondern – einen Minze-Kaugummi kauen, mit sehr befriedigender Wirkung in Bezug auf die Angstregulation. Er wünsche sich nun eine Therapiepause, genutzt für eigenes Training und würde sich gerne melden, wenn er weitere Assistenz meinerseits brauche. Kommentar Die Konditionierung mit einem Duft scheint sehr schnell und innig zu geschehen, aus welchen neurologischen Gründen, wird im Paper von Abramovitz und Lichtenberg dargestellt. Entscheidend für den Erfolg scheinen mir drei Dinge zu sein: Erstens die Qualität resp. die Kraft der Ressource, genau abgeschmeckt in Bezug auf die individuelle Stresssituation. Zweitens ist wohl das Element der Trance mitentscheidend, weil dabei die Fokussierung, die Konzentration auf die mental gespeicherte Ressource, auf sinnlicher Ebene viel besser gelingt und sich dadurch die «neuronalen Freundschaften» – sprich die Anzahl neu gebildeter Synapsen – zwischen Ressource und Duft schneller und vielzähliger entwickeln. Ich mache darum mehrere kurze Konditionier-Trancen hintereinander, weil dabei das Abschweifen von der Ressource resp. das «Verwässern » der möglichst «hochprozentigen» Erfahrung verhindert werden soll. Schon die Hawaiianischen Kahunas wussten: «Energie flows where attention goes». Relevant ist so dann drittens, dass nicht die bildhaften oder auditiven Aspekte der Ressource am wichtigsten sind, sondern der sie begleitende Felt Sense, also die gefühlte Resonanz, die kinästhete-tische Ebene der Erfahrung, das Bauch- oder Brust- oder Ganzkörpergefühl. HOC öffnet eine Vielzahl von Möglichkeiten. Abramovitz und Lichtenberg zeigen uns dies detailliert und raffiniert anhand dreier interessanter eigener Fälle. Vor allem der zweite, wo die anflutende Benzodiazepin-Wirkung resp. der Moment der dabei abklingenden Angst konditioniert wurde, führt dies eindrücklich vor Augen. Wir können offenbar nicht nur statische Ressourcen, das kraftvolle Gefühl einer Kompetenzerfahrung, sondern auch dynamische Ressourcen, ein Werden, eine positive Zustandsveränderung, mit einem Duft «markieren». Dadurch eröffnet sich uns die Möglichkeit, zuerst eine Medikamentenwirkung mit einem Duft neuronal zu verweben, um danach mit weniger oder mit der Zeit gar ohne jegliches Verum, nur noch durch die Verwendung eines Duftes, das um die Dufterfahrung erweiterte neuronale Muster einer Symptomveränderung zu aktivieren. Wenn dies mit Benzodiazepinen gelingt, sollte dies wahrscheinlich auch bei anderen Medikamenten mit relativ rasch eintretender Wirkung jenseits des psychiatrischen und psychotherapeutischen Wirkbereichs möglich sein: Zum Beispiel mit einem Antiemetikum im Rahmen einer Zytostatika-Behandlung, eventuell bei einem Asthmatiker, der bei früheren herannahenden Bronchospasmen gleichzeitig zum Betamimetikum resp. leicht zeitverzögert auch einen Duft konsumiert, und warum nicht einem Patienten beim Anfluten eines i.v. applizierten Analgetikums im Moment des nachlassenden Schmerzes gleichzeitig auch einen Duft anbieten?! Wahrscheinlich gibt es viele Möglichkeiten von Konditionierungen. Wie gut gewisse Schmerzpatienten auf Placebo anstelle von Morphium ansprechen und die Wirkung des Placebos durch Naloxon antagonisiert werden kann, wissen wir; anstelle von Morphium wirken hier offenbar die körpereigenen Endorphine. Wenn wir die μ-Rezeptoren via Endorphine mental aktivieren können, können wir dies wohl auch via Duftkonditionierung. Denn über irgendwelche Neuronen-Stafetten ist der Geruchsinn unweigerlich auch mit den μ-Rezeptoren «befreundet »; alle Neuronen sitzen in unserem Hirn ja im gleichen «Boot». Warum Küssen Sinn macht – noch eine Vignette Ein Kuss als sozialen Stress balancierende Kompetenzerfahrung macht ausgesprochen Sinn. Es ist wohl gerade das dabei aktivierte Bindungshormon Oxytocin, welches Beziehungen gelingen lässt. Und das ist ja das ersehnte Ziel unserer soziophoben Mitmenschen. Eine andere HOC-Angstpatienten von mir, es geht eher um eine hypochondrische Angst, hat mich auf einen grossen Ressourcen-Pool aufmerksam gemacht. Ihr habe ich beispielhaft vom «Minzenkuss» und seiner verblüffenden Wirkung erzählt. Sie wählte sich für die Konditionierung danach und ohne lange zu zögern die nicht nur für sie – dank unseren Spiegelneuronen – berührende Sequenz im Film «The Bridges of Madison County», wo sich die Protagonisten, Merryl Streep und Clint Eastwood, endlich endlich küssten. Weil die Patientin erkältet und ihre Nase darum verstopft war, kam es erst am folgenden Tag zur ersten Konditionierung. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich zur Sicherheit auf You Tube die Schlüsselszene nochmals angeschaut und den Felt Sense überprüft und gleich trainiert, um dann, nun nach rechtzeitig vorausgegangener nasaler Applikation eines Vasokonstriktors (dessen Wirkung könnte man ja separat zum Beispiel bei einer Rhinitis vasomotorica auch konditionieren), in die Liebessszene hineinzuschwelgen. Aufgrund früherer Erfahrungen haben wir die Selbstsicherheit verströmende Hand des verstorbenen und darum unsichtbaren Grossvaters auf die Schulter mitkonditioniert, nachdem wir Clint Eastwood und Merryl Streep um Erlaubnis gefragt haben. Das Resultat werde ich nach den Ferien erfahren. Das Konditionierungs-Kino und die Idee, real eine Filmsequenz erleben zu können, statt sich an eine vergangene erinnern zu müssen, stimuliert die Idee eines Konditionierungs-Kinos. Hier könnten zum Beispiel Kinder mit ADHS sich eine Szene mit Bruce Lee anschauen, der gleichzeitig kraftvoll, konzentriert und eben auch kontrolliert die Aufmerksamkeit auf sich zieht, während z.B. betörender Lavendelduft sich ausbreitet. Genau dies hat Georg Milzner in seinem Hypnotherapie- Curriculum beim Thema Soziophobie erwähnt, dass nämlich in den Herkunftsfamilien von Soziophobikern wirksame Vorbilder für das erwünschtesoziale Verhalten oft fehlten und ein solches aber in Filmen zur Verfügung steht. Frage an den Patienten: «Wen kennen Sie, vielleicht am TV oder im Kino mal gesehen, der das kann, was Sie auch gerne können möchten?» Und Bruce Lee könnte hier mit und ohne Trance eine längerfristige Mentorschaft übernehmen. Weitere positive Gefühle als Konditionierungskandidaten sind Gelassenheit, tiefe innere Ruhe, Hoffnung, Zuversicht, Mut und Dankbarkeit. HOC- auch für Anfänger geeignet Bestechend am HOC finde ich, dass der Patient aktiv und willentlich und ohne sich Trance versetzten zu müssen etwas für sich selber tun kann, ohne bereits eine Meisterschaft in Selbsthypnose errungen zu haben. Meine erste HOC-Patientin – konditioniert wurde der Felt Sense der sogenannten 3DMethode nach Philipp Zindel – berichtete, dass sie nach Aufnahme einer Ausbildung nach wenigen Unterrichtsstunden nun den Duft nicht mehr real brauche, es reiche, ihn bei sich zu wissen. Ich und Eitan Abramovitz sind sehr an einem HOC-Feedback von Ihnen interessiert. Zu erwähnen bleibt, dass Abramovitz und Lichtenberg 2010 ein Folge-Paper in der gleichen Zeitschrift publizierten, das ganz dem Thema HOC bei Patienten mit PTBS im Rahmen von Kampfhandlungen gewidmet ist.

Heini Frick, CH-HYPNOSE, VOL.XXI , NO 2/2011