Porges ist Professor für Psychiatrie und Biomedizintechnik, Direktor des Brain Body Centers an der University of Illinois in Chicago. Er war Präsident der „Federation of Behavioral, Psychological and Social Sciences'' und der ``Society for Psychophysiological Research''. Von 1985 bis 2001 war er Professor für humane Entwicklung und Psychologie an der University of Maryland/Collage Park und Direktor des ``Institut for Child Study``. Er ist verheiratet mit Sue Carter, einer international bekannten Expertin im Bereich der Neuropeptide Oxytocin und Vasopressin in Bezug auf soziales Verhalten; sie ist Co-Direktorin des Brain-Body Centers. Man kann sich die lebhaften und geistig gegenseitig befruchtenden Interaktionen über das Frühstücksei hinweg vorstellen, welche dann anschliessend im Labor überprüft werden sollen.
Auf Porges bin ich gestossen, weil meine Frau nach der psychotraumatologischen Methode von Peter Levine arbeitet, welche wesentlich auf der Polyvagal-Theorie (PVT) aufbaut. Und über das Frühstücksei hinweg habe ich in den vergangenen Jahren zunehmend über ihre Erfolge mit Kurzinterventionen bei verschiedenen Krankheitsbildern, bei welchen lange nicht nur ein offensichtliches Trauma nach ICD-10 oder anderen Kriterien eruierbar wäre, gestaunt. Meine anfängliche Skepsis, es handle sich bei der PVT um „alten Wein in neue Schläuche`` wich einer zunehmenden Neugier. Darum habe ich im September 2011 an einem 2-tägigen Workshop von Porges mit dem Tittel „Neurophysiologie der Selbstregulation`` am Polarity Institut in Zürich teilgenommen, wo übrigens auch Sue Carter, Peter Levine und zum Beispiel auch Bessel van der Kolk als bekannter Psychotraumaforscher unterrichten. Im Nachfolgenden mache ich eine Darstellung der PVT als Destillat des Buches und des Workshops und füge Aspekte der psychotraumatologischen Behandlung nach Peter Levine und Überlegungen im Hinblick auf die klinische Hypnose hinzu.
Das Buch selber besteht aus verschiedenen Vorträgen zum Thema PVT aus verschiedenen Blickrichtungen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Ein gestrafftes Buch würde wohl mit wesentlich weniger Seiten als 336 auskommen. Es gliedert sich in fünf Teile mit insgesamt 15 Unterkapiteln. Der erste Teil ist der Theorie gewidmet, der zweite der behavioralen Regulation während der frühkindlichen Entwicklung, der dritte Teil mit der Überschrift „soziale Kommunikation und Beziehung`` hat den spannenden Unterkapitel Emotion (ein Abfallprodukt der Phylogenese des autonomen Nervensystems), Liebe (eine emergente Eigenschaft des autonomen Nervensystems der Säugetiere) und soziales Engagement und Bindung aus phylogenetischer Sicht. Im vierten Teil geht es um therapeutische und klinische Aspekte zum Beispiel anhand von Autismus und das fünfte Kapitel ist ein Ausblick in Bezug auf soziales Verhalten und Gesundheit. Im Buch steht noch wesentlich mehr, nicht nur die entsprechende Literatur für jeden noch so kleinen Aspekt, welcher die Polyvagal-Theorie konstituiert, sondern auch weitere interessante Aspekte sozialer Interaktionen unter dem Blickwinkel des sogenannten Social Engagement Systems. So gibt es ein Kapitel, das sich mit der Auswirkung von Missbrauchserlebnissen auf die autonome Regulation befasst und zum Beispiel eines, das sich der Musiktherapie und dem Trauma widmet.
Porges geht davon aus, dass jegliches menschliches Verhalten adaptativ ist, oder es früher zumindest einmal gewesen war. Basierend auf der Forschung von Charles Darwin und William James stellt er ein 3-stufiges, phylogenetisch entwickeltes und hierarchisch angeordnetes Adaptationssystem vor. Adaptation heisst, dass ein Lebewesen sein Verhalten so ändern kann, dass es mit der Umwelt möglichst lange in Kontakt und dadurch am Leben bleiben und sich somit auch fortpflanzen kann. Die von der Evolution her primitive Verhaltensänderung der ersten terrestrischen Lebewesen war das Erstarren, so dass der Fressfeind kein Interesse mehr am erstarrten Wurm verspürte. Später entwickelte sich - dem Erstarren funktionell übergeordnet - ein wesentlich kreativeres Verhalten, welches mit Bewegung verbunden ist, nämlich Kämpfen und Flüchten. Dieses, nun den Reptilien eigene Verhaltensrepertoire erhöht die Überlebensfähigkeit zum Beispiel auch dadurch, dass ich als Krokodil einem eben solchen die Beute abjagen und dadurch besser genährt in den nächsten Rivalenkampf gehen kann. Das Kämpfen und Flüchten erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit, nüchtern betrachtet macht es aber auf der sozialen Ebene einsam. Solange ein Tier im Kampf-Flucht-Modus ist, erstarrt es nicht, es sei denn, dass innere Sicherheitsdetektoren nun melden, dass beides keinen Sinn mehr hat, dass die Situation lebensbedrohlich geworden ist und ich darum in den Modus des Erstarrens gehe als verbleibende Überlebensstrategie. Das ist uns gut bekannt, weil wir Menschen in lebensbedrohlichen Situationen auch so reagieren können.
Was Porges nun beifügt ist das zuoberst an der Pyramide stehende dritte und phylogenetisch jüngste sogenannte Social Engagement System (SES). Dieses SES ist nur bei Säugetieren ausgebildet und kontrolliert das im Säugetier immer noch vorhandene Verhaltensrepertoire von Reptilien, dem Kampf- und Flucht-Modus. Zur Erklärung der neurobiologischen Grundlage der Funktionsweise dieser drei Adaptationssysteme dient die von Porges entwickelte Polyvagal-Theorie. Sie fusst ganz wesentlich auf eigentlich bereits schon längerer Zeit bekannten anatomischen und physiologischen Forschungsresultaten.
Ursprünglich erforschte Porges anfangs der 90er-Jahre das autonome Nervensystem, repräsentiert durch das sich gegenseitig balancierende parasympathische Nervensystem, vermittelt durch den Nervus vagus und das sympathische Nervensystem. Porges entdeckte damals das Prinzip der Herzraten-Variabilität (HRV), welches heute vielfältig genutzt wird. Hier geht es darum, dass innerhalb des Herzrhythmus ein zweiter, durch die Atmung vermittelter langsamer Rhythmus mitschwingt und moduliert. Eine deutliche HRV ist Ausdruck von Gesundheit, das Gegenteil weist auf eine latente Störung hin. Eine eingeschränkte HVR kann Hinweis auf eine Herzkrankheit sein, sie wird beobachtet bei diversen Krankheiten, bei welchen Stress eine Rolle spielt, wie zum Beispiel bei gewissen Patienten mit chronischen Schmerzen vom Typ der Fibromyalgie. Hier wird das Erfassen der HRV sogar als möglicher Biomarker dieser Störung diskutiert.
Damals ging Porges davon aus, dass ein Organismus je parasympathischer gestimmt, desto gesünder sei. Das dem nicht so war, wurde ihm durch das Feedback eines Kinderarztes auf eine Publikation bewusst, weil in der Neonatologie eine Bradykardie ein lebensbedrohliches Alarmzeichen ist. Dieses Phänomen, von Porges als „Vagus-Paradox`` bezeichnet, wurde Ausgangspunkt zu einem intensiven Literaturstudium, welches in die eigentliche PVT mündete. Die Erkenntnis war, beides ist richtig. Das Paradox gibt es nur scheinbar, weil für die beiden vagusabhängigen Funktionsweisen nicht einem, sondern zwei verschiedenen Vagusnerven resp. Nervensysteme existieren und das eine davon bei zu früh geborenen Kindern noch nicht voll funktionstüchtig ist. Porges entdeckte nämlich, dass der Einfluss des Vagus auf das Herz und übrigens auch auf die Lungen, durch vagale Nebenäste vermittelt wird, welche im Gegensatz zu den unterhalb des Zwerchfells vom Vagus innervierten Bauchorgane, durch eine Myelinisierung charakterisiert ist. Die Nervus vagus-Äste unterhalb des Zwerchfells hingegen sind nicht myelinisiert. Zudem entdeckte Porges, dass es bereits längst bekannt war, dass im Bereich der Vagus-Kerne im Hirnstamm, sich der myelinisierte Vagus einem etwas anderen Kerngebiet als der nicht-myelinisierte zuordnen lässt. Zudem ist der myelinisierte - und darum auch schneller leitende - Vagus nicht nur mit Herz und Lungen, sondern - via direkter Verbindungen auf der Ebene des Hirnstamms mit den Hirnnerven V, VII, IX, X und XI, also dem Nervus trigeminus, facialis, glossopharyngeus, nicht myelinisiertem Vagus und Nervus accesorius verbunden. Porges nennt den myelinisierten Vaguskomplex aufgrund der anatomischen Lage der Kernregion im Hirnstamm auch den ventralen und - wegen seiner weiter unten dargestellten zwischenmenschlichen Aufgaben - sinnigerweise auch den sozialen Vagus.
Somit besteht eine funktionelle Verbindung des sozialen Vagus mit der Muskulatur am Kopf, welche Gesichtsausdruck, Kopfstellung, Stimmqualität und Hörfähigkeit reguliert und in funktioneller Hinsicht das soziale Engagement System bildet.
Soziale Kontakte werden bei Säugetieren - im Gegensatz zu Schildkröten, Geckos und Würmer - ganz wesentlich über Gesichtsausdruck und die Stimme vermittelt und moduliert. Dies kann zudem auch auf weite Distanzen erfolgen. Ein exzellentes Beispiel hierzu habe ich im April 2011 im Rahmen der 16. Zürcher Psychotraumatologie-Tagungen erlebt, damals noch nicht wirklich in Kenntnis der PVT: Prof. Ulrich Egle zeigte anlässlich seines Referates, wo es um die Beziehung von Schmerz im Erwachsenenalter und früher Bindungserfahrung ging, folgenden Videoclip mit drei Kameraeinstellungen: Zuerst sehen wir den Oberkörper eines zirka 1½-jährigen Jungen, der quitschvergnügt am Boden sitzt und mit seinen Patschhändchen immer wieder etwas tut unterhalb seines Oberkörpers und somit ausserhalb der Kamera. Dazwischen schaut er immer wieder sich versichernd zu seiner Mutter, um dann vergnügt weiterzumachen. Als zweites sehen wir eine ihren Sprössling anstrahlende Mutter, positiv zugewandt und durch ihre Strahlkraft das Verhalten vom Sprössling unterstützend, die warmherzige Sonne, unter der menschliche Pflänzchen bekanntlich am besten gedeihen. Dann endlich zeigt die Kamera auch die untere Hälfte des Kindes und wir erkennen - es geht ein Raunen durch den Saal - dass es mit einer sich um ihn windenden und schlängelnden Würgschlange beschäftigt ist, welches immer wieder lustvoll auf Distanz gehalten wird. Prof. Egli erklärte nun in diesem hoch suggestiblen Moment dem Publikum, dass das positive Verhalten der Bezugsperson dem Kind Sicherheit und damit die Möglichkeit vermittelt, neue Erfahrungen mit unbekanntem zu machen. Er erwähnte zudem, dass wenn die Mutter lediglich neutral dabei gestanden hätte, das Kind - resp. sein Zentralnervensystem - die Situation als unsicher oder gar gefährlich qualifiziert und dadurch wohl gemieden hätte.
Hier vermittelte die Mutter dem Zentralnervensystem des Kindes eine Lektion im Entwickeln des SES, welches gemäss Porges unmittelbar und zentral mit der Erfahrung von Sicherheit verbunden ist. Porges erwähnt darum auch die Studien zu den Rumänischen Kinderheimen, wo - in Abhängigkeit der Zeitdauer bis zur Adoption - das Bindungsverhalten von unsicher wieder auf mehr oder weniger sicher „schaltet``. Der eindeutige Zusammenhang zwischen Bindungstheorie und PVT ist aber nicht erforscht, was ein Aspekt des theoretischen Teils der PVT darstellt. Grundsätzlich können wir sagen, dass je länger das SES in einer mehr oder weniger unsicheren sozialen Situation online ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass uns beziehungsfördernde Worte und Gesten einfallen, vermittelt mit wohlwollender Stimmmelodie. Denn dadurch regulieren wir das SES unseres Gegenübers, ohne dass er oder sie dies merken muss. Beispiele und Trainingsgelegenheiten auch ausserhalb des therapeutischen Settings ergeben sich andauernd, zum Beispiel wenn Sie im Schweigeabteil der SBB jemand höflich, eventuell nur mimisch oder dann flüsternd, zum Schweigen überreden möchten oder bei der unverhofften Billetkontrolle im öffentlichen Verkehr oder bei einem Banküberfall. Wenn wir uns sicher fühlen, strahlen wir das auch aus. Das führt uns zum Thema Sicherheit.
Zur PVT gehört das Konzept der sogenannten Neuroception. Darunter versteht Porges ein unbewusstes Überwachungsprogramm in unserem ZNS, welches 24 Stunden lang am Tag für uns die Umgebung nach Gefahr abtastet. Wenn die Situation sicher ist, können wir im sozialen Kontext entspannen, neue Erfahrungen machen, nicht nur bei einem Candle light-Dinner oder im Tangokurs, sondern insbesondere auch zum Beispiel in einer Psychotherapie. Die neuronale Vermittlung der drei hierarchischen Adaptations-Modi ist in den nachfolgenden zwei Diagrammen dargestellt. Im optimalen Zustand, in Abwesenheit von Gefahr oder Lebensbedrohung und bei einem gut ausgebildeten SES, ist der Kampf- und Flucht-Modus und dadurch auch der Erstarrungs-Modus unterdrückt im Sinne einer effizienten Affektregulation. Im Kampf-Flucht-Modus ist der soziale resp. ventrale Vagus weniger oder gar nicht mehr aktiv, dafür der Sympathikus. Stress bedingt sind unsere Fähigkeiten nun limitiert, den Bankräuber freundlich zu überreden. Falls die Situation eskaliert und es lebensbedrohlich wird, dominiert dann im Zustand der Erstarrung resp. der Dissoziation die völlige Dominanz des dorsalen Vagus, wo wir quasi in einen körperlichen und mentalen Winterschlaf gehen. Allerdings haben wir vorher nach Top-down „Durchqueren`` des Kampf-Flucht-Modus massiv Energie mobilisiert, welche nun quasi „eingefroren`` wird. Porges hypothetisiert hierzu - weil noch niemand in einer solchen Situation den Puls des beklagenswerten Mitmenschen messen konnte - dass der Voodoo-Tod analog zur lebensgefährlichen Bradykardie des zu früh Geborenen, eine fatale Überreaktion des dorsalen Vagus darstellt.
Ideale Voraussetzungen für ein Erstarren und somit das Eintreten eines Psychotraumas sind Zustände, wo Kampf und Flucht nicht mehr möglich sind bei gleichzeitiger Anwesenheit von Angst. Angst und erhaltene Mobilität - ich habe geeignete Waffen, vielleicht sogar verbale, oder der Fluchtweg ist offen - ermöglicht eine Veränderung des gefährlichen Settings. Auch ein Kampf ohne Angst führt nicht zur Dominanz des dorsalen resp. nicht myelinisierten Vagus. Vordergründig banale Situationen hingegen schon, wie ich von meiner Frau resp. Peter Levin langsam lerne und gerade auch in der Anamnese von Schmerzpatienten entdecken kann. Dies können Situationen sein zum Beispiel in der Kindheit, wo in Ermangelung von verbaler Erklärungsmöglichkeiten (der Sinn ist nicht erkennbar, Orientierung ist ein Grundbedürfnis nach Klaus Grave und vermittelt Sicherheit), ein ängstliches Kind für eine Impfung festgehalten wird. Eine Patientin mit einer urologischen Missbildung wurde in der Kindheit und Jugendzeit bis zu einer Operation mehrfach katheterisiert und suprapubisch punktiert und habe jeweils von kräftigen Pflegern dazu festgehalten werden müssen, weil sie eigentlich davonrennen wollte. Ein Trigger von leichter Benommenheit verbunden mit Nervosität war für sie heute noch Spitalgeruch. Eine nur unfreiwillig aufgesuchte Konstellation von Angst und Immobilisation in Rückenlage stellt auch ein Besuch beim Zahnarzt dar. Ein solches Setting qualifiziert nach ICD-10 eben nicht als Kriterium A einer PTBS, wenn aber solche Erfahrungen vorhanden sind, können unter geeigneten therapeutischen Bedingungen verschiedenste psychosomatische Beschwerden rasch abheilen. Wesentlich schwieriger ist es hingegen, bei einem schwer traumatisierten Mensch mit deutlich eingeschränkter Funktionsweise seines SES über diesen „Kanal`` den dauernd in Alarmstimmung sich befindenden Organismus „runter zu fahren``, oder aus dem Erstarrungszustand zu mobilisieren.
Wie erkennen Sie - liebe Leserin, lieber Leser - ob es sich bei einem fossilen Schädel um ein Reptil oder ein Säugetier handelt? Von Porges habe ich gelernt, dass das Hören der Säugetiere auch über Luftleitung und nicht nur über Knochenleitung funktioniert. Die Voraussetzung hierzu sind freischwingende Gehörknöchelchen im Mittelohr. Am Reptilienschädel suchen wir dies offenbar vergebens. Die Luftleitung ermöglicht uns, hohe Frequenzen wahrzunehmen, Reptilien hören diese nicht. Relevant in der PVT ist nun, dass das Trommelfell durch den kleinen Tensor tympani angespannt werden kann, der seinerseits vom Vagus und zwar dem myelinisierten innerviert wird. Das Angespanntsein bedeutet ein straffes Trommelfell, welches die hohen Frequenzen gut zur Gehörschnecke weiterleitet. Dies erklärt, warum wir inmitten eines grösseren Stimmengewirrs, zum Beispiel ein Trance-Buffet in Balsthal, die hohen Frequenzen unserer Gesprächspartnerinnen immer noch gut herausfiltern können, vorausgesetzt, unser SES ist gut tonisiert. Wenn wir aber ängstlich sind, so ist das Trommelfell eher schlaff und wir haben Mühe im Lärm, hohe Frequenzen zu diskriminieren. Dies stimmt offenbar mit psychisch traumatisierten Menschen überein, wo bei leicht ängstlicher Grundstimmung im Lärm an der Bar hohe Töne eher weniger gut diskriminiert werden, tiefe aber umso besser. Dadurch können wir im Zustand von Alarmbereitschaft auch besser und rascher den herannahenden Säbelzahntiger erkennen. Ärztlicherseits kann ich hier nur beipflichten, dass sich Patienten mit chronischen Ganzkörperschmerzen, eventuell mit Status nach HWS-Distorsion, regelmässig über eine Überempfindlichkeit des Gehörs beklagen, zusätzlich allerdings auch im Hinblick auf Licht und Gerüche. Gemäss Porges haben zirka 60 % der Autisten eine Lärmüberempfindlichkeit. In seinem Forschungslabor hat er darum eine spezielle Software entwickelt, welche Autisten über Kopfhörer speziell modulierte Musik vermittelt. Derart beschallte Autisten würden sich nun tatsächlich im sozialen Verhalten positiv verändern, was ein Beweis für den Zusammenhang zwischen Gehör und SES darstellt. Über das Gehör, die Stimme, kann somit das SES trainiert werden.
Die Evolution hat das SES mit weiteren, das Leben fördernden physiologischen Zuständen verbunden. Zu erwähnen ist hier die Atmung, denn jedes Ausatmen aktiviert das SES, messbar an der HVR und zudem auch messbare positive Effekte des Ausatmens auf das Immunsystem. Jegliche Disziplin, bei der langsames Ausatmen gefördert wird, somit jegliches Entspannungsverfahren, aktiviert automatisch auch das SES.
Interessant ist, dass offenbar der Nervus vagus, wenn wir ihn noch oberhalb des Zwerchfells in seinem Querschnitt erfassen, nur zu 20 % aus efferenten Fasern besteht. Mit Efferenz wird ein Informationsfluss vom Zentralnervensystem in die Peripherie, also in den Körper unterhalb des Gehirns gemeint. Der „Kopf`` steuert den „Bauch``. Diese 20 % teilen sich oberhalb des Zwerchfells in 10 % myelinisierte und 10 % nicht-myelinisierte Nervenäste auf. Die anderen 80 % sind unmyelinisiert und bemerkenswerterweise afferent! Sie ermöglichen einen Informationsfluss der Bauchorgane Richtung Gehirn. Doch über was informiert unser Bauch das Gehirn? Porges vermutet, dass es sich möglicherweise hier um die neuronale Grundlage unseres „Bauchgefühls`` handeln könnte. Eine andere Bezeichnung ist hier der Felt Sens und Damasio spricht vom somatischen Marker. Auch hier scheint ein gutes Funktionieren des SES relevant zu sein. Denn bei seiner Unterfunktion können gerade traumatisierte Menschen nicht mehr gut respektive intuitiv spüren, ob ein sich in ihrer Nähe befindender Mensch es gut oder nicht gut mit ihnen meint. Der Zugang zur Intuition ist behindert.
Langsam können wir erahnen, wo überall in unserem Alltag das SES eine zentrale Rolle spielt. Ich verstehe nun viel besser, wie wir auf Distanz, durch das Vermitteln von Sicherheit oder eben dem Gegenteil, unsere Mitmenschen bewusst oder unbewusst steuern resp. manipulieren können. So wirkt eine tröstende und zudem vertraute Stimme Balsam für meine Seele, auch durch das Telefon. Während eine nur schon leicht verärgerte und verunsichernde Stimmung das Gegenteil bewirkt: Chefarzt zum Assistenten am Morgenrapport: „Melden Sie sich nach der Visite um 11 Uhr bei mir im Büro, ich muss mit Ihnen noch ein Hühnchen rupfen``. Nicht nur unbewusste Eltern, sondern auch Politiker und Vertreter machen sich diesen Zugang zu Nutzen, natürlich auch wir TherapeutInnen.
Wenn wir die psychologischen Aspekte im Hinblick auf das SES vorläufig zusammenfassen, so erkennen wir erstens seine Relevanz im Hinblick auf die Bindungstheorie resp. die Wichtigkeit geeigneter sozialer Interaktionen für den heranwachsenden Menschen. Zweitens können wir verschiedene psychiatrische Krankheiten erkennen, wo dieses System eine Rolle spielt, weil es zu wenig geweckt wurde oder, weil es nachträglich im Rahmen eines Traumas in seiner Funktionsweise gestört wurde. Wohl bei allen Leuten, wo Angst eine Rolle spielt, ist das SES kompromittiert. Das Paradebeispiel ist die Schüchternheit resp. als Extremvariante die Soziophobie. Weitere psychische Störungen mit Kompromittierung des SES sind wahrscheinlich gewisse Persönlichkeitsstörungen, Anpassungsstörungen, Depressionen, Zwangserkrankungen, suchtabhängige Störungen und natürlich Kinder mit Bindungsstörungen. Bei einer Soziophobie finden wir an ihrem Anfang sehr häufig eine Erfahrung von öffentlicher Beschämung, ein Zustand maximaler Schutzlosigkeit genau im sozialen Kontext. Das SES wird hier geradezu vergiftet mit fatalen Folgen für weitere Expositionen in eben diesem sozialen Kontext. Oder die potentielle nachhaltige unvorteilhafte Wirkung, wenn Eltern ihre Kinder anbrüllen und sie gleichzeitig festhalten resp. immobilisieren.
Der therapeutische Ansatz nach Levine ist körperorientiert, seine Therapie heisst darum sinnigerweise auch Somatic Experiencing (SE). Es geht hier - nach Etablierung einer relevanten Sicherheit als Grundvoraussetzung - um eine Bottom-up-Therapie. Das heisst, es steht zuerst die Auflösung der Erstarrung im Therapiefokus. Wenn dann die „eingefrorene`` Energie langsam wieder freigesetzt wird, kommt nun der beim Trauma in der Vergangenheit verhinderte Kampf- und Flucht-Modus nun wieder in Gang. In dieser Phase sind die Patienten oft aggressiv, sei dies auf sich selber oder Personen und Umstände im Zusammenhang mit dem Trauma. Sie verstehen dies dabei selber oft nicht, für den Therapeuten ist es aber ein Zeichen, auf dem richtigen Weg zu sein. Ganz vieles im SE hat direkt mit dem Körper zu tun. Wenn ein Patient beim Gespräch mit den Händen herumfuchtelt, oder mit den Füssen sich speziell bewegt, so lautet eine regelmässige Spiegelung: „Was möchten Ihre Hände wohl sagen, wenn sie sprechen könnten, was möchten Ihre Füsse tun, wenn sie es könnten¿`. Ein Statement des Patienten wird nicht selten gegen gefragt: „Woran merken Sie das¿` Relevant ist dabei der Unterschied, dass nicht gleich nach Fühlen gefragt wird, da dies den Zugang zum Gegenwärtigen bereits auf einen eventuell noch verschlossenen Sinneskanal leitet. Gemäss Peter Levine besteht in der Mehrheit traumatisierter Patienten übrigens ein Mischzustand zwischen Kampf- und Flucht-Modus und Erstarrungs-Modus im Sinne eines Hin- und Hergehen dazwischen. Hypnotherapie und Somatic Experiencing haben ausgesprochen viele Berührungspunkte. Es geht darum, sinnesbezogen wieder ins Hier und Jetzt zu kommen und nicht darum, intellektuell über die Problematik argumentativ hinweg zu denken.
Somit sind wir bei der Frage nach den therapeutischen Optionen, welche sich - abgesehen zur Musiktherapie bei Autisten und der Arbeit mit SE - durch das Wissen um die PVG resp. das SES eröffnen: Mit Erfolg wird offenbar bei traumatisierten Frauen Yoga eingesetzt, wegen der effizienten Selbstberuhigung durch die Atemregulation. Van der Kolk erwähnt in seinem Vorwort aus dem asiatischen Raum zudem Qi-Gong, Tai-Chi und die Kampfkünste, zudem Kendo-Trommeln als rhythmische Aktivität. Therapeutische Theaterprogramme für Schulen in amerikanischen Problemregionen haben durch die PVT nun ebenfalls eine wissenschaftliche Grundlage. Generell scheint das Erleben von Körperbewegungen - möglicherweise vor allem rhythmische - bei dissoziierten Menschen eine reassoziierende Wirkung zu haben. So profitieren offenbar jugendliche Straftäter vom Theaterspielen und hier von Shakespeare, nicht nur wegen der prosozial eingesetzten Mimik beim Schauspielen, sondern auch wegen der psychotropen Wirkung der Rhythmik der Hexameter. Interessant ist, dass Hinweise darauf bestehen, dass Achtsamkeit, wie sie Teil verschiedener Meditationen und den erwähnten asiatischen Disziplinen eigen ist, ein Training des SES und somit ein Training prosozialer Verhaltensweisen bewirkt. Im Workshop erwähnte Porges hierzu explizit nachgewiesen die Vipassana-Meditation. Interessant bei der Meditation ist, dass hier auch alleine und ohne Gruppe das SES trainiert werden kann, hier wird zudem auch Immobilisation ohne Angst trainiert. Mir selber leuchtet ein, warum es wirkungsvoll ist, dass in Slums von Südamerika verhaltensauffällige Kinder zur ungezwungenen Teilnahme an Tanzschulen ermuntert werden mit günstiger Wirkung auf ihr Sozialverhalten. Gerade das spielerische Element, das sich immer wieder anschauen - aber nicht zu lange, das sich den Bauch, die Weichteile zuwenden, vielleicht auch Körperkontakt - aber nicht zu lange - ein langsames Erwachen und ein Erstarken des SES und damit mehr Sicherheit und Neugier im sozialen Kontext ermöglicht. Bei Klaus Grave können wir nachlesen, dass durch Singen die Aktivität der Amygdala zurückgefahren werden kann. In welcher Kultur wird nicht gemeinsam getanzt und gesungen, möglicherweise auch bevor man in den Krieg zieht. Bei allen diesen Tätigkeiten ist die Wiederholung entscheidend, es heisst üben, üben, üben und nochmals üben.
Ein gut ausgebildetes SES ermöglicht uns, uns sicher zu fühlen und uns gleichzeitig zu bewegen oder auch im sozialen Kontext inne zu halten. Dies ermöglicht viele soziale Aktivitäten, nicht nur das Halten eines Vortrags vor einem Publikum, das Erleben eines Candle Light-Dinners oder überhaupt die Möglichkeit, intime Nähe zulassen zu können. Und ein eigenes gut ausgebildetes SES bewegt ein positiver Resonanzeffekt auf das SES der anwesenden Mitmenschen. Jenseits der Psychotraumatologie scheint es somit verschiedene Trainingsmöglichkeiten des SES resp. der Affektregulation zu geben. Hier ist allerdings noch viel Forschung angesagt.
Gerade intime Nähe ist bekanntlicherweise mit einem Anstieg von Oxytocin und Vasopressin verbunden. Einiges an Raum nimmt in Porges Buch darum auch dieses „Bindungs-Hormon`` ein. Oxytocin ist unmittelbar beteiligt am Funktionieren des SES. Darum wird die therapeutische Anwendung von Oxytocin als Nasenspray klinisch erforscht, übrigens auch im militärischen Setting, dann allerdings wohl eher auf Distanz versprüht.
Das nachfolgende Diagramm aus dem Buch von Porges stellt eine
Synopsis von Neuroanatomie, Neurotransmittern, Emotionen und Verhalten
dar mit in diesem Artikel nicht referierten Aspekten.
Seit meinem Workshop mit Porges achte ich noch mehr auf ein Sicherheit resp. Geborgenheit förderndes Setting in der Praxis. Dies beinhaltet beispielsweise auch die flexible Arrangierung der Distanz zwischen den Stühlen und die Nähe zur Türe. Ich bin mir noch mehr der Wirksamkeit meiner Stimme bewusst, wo es oft mehr auf das wie als das was ankommt. Dass wir gerade beim Einleiten der Trance nur noch beim Ausatmen sprechen, macht nun sehr Sinn, ebenso das rhythmische Sprechen, was wie ein Hin- und Herwiegen einer Wiege eine verlässliche Voraussage für den Klienten bedeutet, so dass er die „äusseren Antennen`` einfahren kann, um sich in Sicherheit wiegend, nach innen zu öffnen. Zudem spreche ich nun tatsächlich selber etwas langsamer.
Wenn die Distanz dann stimmt, ist es gerade für Menschen mit einer sozialen Thematik sehr angenehm und allein schon therapeutisch, die Augen schliessen zu können. Beziehung ist da, ohne dass Blickkontakt aber notwendig ist. Wie wohltuend ist es doch, die Augen zu schliessen und einer wohlwollenden Stimme zuzuhören die sagt, „Sie müssen mir nicht einmal folgen, Sie können ganz bei sich selber sein, ich bin in dieser Zeit immer für Sie da``. Durch die wohlwollende Beziehung zur Therapeutin steigt die Wahrscheinlichkeit einer wohlwollenden Beziehung des Klienten zu sich selber. Am Ende einer langen und günstig verlaufenden Therapie einer Patientin mit PTBS habe ich im Sinne des Feedbacks gefragt, was wohl das wichtigste Element, der wichtigste Moment in der Therapie gewesen sei, was wohl den turn around ermöglicht habe. Die damals für mich überraschend simple Antwort lautete, „dass Sie für mich da waren¡` Hypnotherapie funktioniert hier eindeutig im Sinne einer Top-Down-Regulation. Auch das in Trance regelmässig angestrebte Erleben eines Safe Places, eines Lucky Place oder Power-Kompetenz-Place - ist wohl unmittelbar mit einer zusätzlichen Aktivierung des SES und damit mit einer Verbreiterung und Vertiefung des Containments, schmerzhaftes zuzulassen und sich für neues zu öffnen, verbunden. Mit der SES resp. der PVT haben wir nun die Möglichkeit zu erklären, warum eine therapeutische Trance eine unspezifische und somit sehr positive Wirkung auf den ganzen Therapieprozess haben kann.
Was mich zudem überzeugt hat im Workshop ist der Mahnfinger von Porges bezüglich dem Konsum von Bildschirmmedien, nicht nur durch Jugendliche. Er befürchtet, dass der regelmässige Konsum virtueller Beziehungen im Internet das SES zu dekonditionieren, zu degenerieren vermag, wodurch archaischere und sozial weniger vorteilhafte Reptilien-Verhalten vermehrt online gehen könnten. Dies könnte zur Folge haben, dass in realen Begegnungen, wenn nicht sofort mittels Mausclick reguliert werden kann, das Coping-Verhalten durch Ängstlichkeit und Ärger gesteuert wird. Dadurch greifen wir Menschen wieder auf konzeptionelle Vorurteile aus der Vergangenheit zurück, statt in selbstregulierter Sicherheit der Erfahrung der Gegenwart zu vertrauen.
Jenseits von Trance erkennen wir, das doch oft brachliegende Potential einer fröhlichen, vielleicht gar herzlichen Begegnung. Einmal mehr muss auf die Studie von Fowler und Christakis (nicht Chantakis wie fälschlicherweise im letzten Heft geschrieben) verwiesen werden. Die Autoren haben beweisen können, dass das Glück des Einzelnen nachhaltig auf sein Umfeld ansteckend wirkt. Wir sind eine Gesellschaft von Säugetiere, deren Mitglieder sich bewusst, vor allem aber unbewusst andauernd gegenseitig regulieren, die Frage ist nur, in welche Richtung. Ich meine, dass dies auch für unsere Beziehung mit anderen Säugetieren gilt, zum Beispiel zu Hunden. Wer schmilzt nicht dahin und empfindet Zuneigung, wenn uns ein treuer Hundeblick erwischt und sich eine sanfte Pfote auf unser Knie legt? Wenn wir uns der zutiefst systemischen gesundheitsfördernden Wirkung von Mitmenschlichkeit vermehrt bewusst werden, können wir getrost noch etwas grosszügiger als bisher mit unserer Freundlichkeit kleckern. Wir können uns darin üben, vermehrt den ersten Schritt zu tun und nicht abzuwarten, dass der andere es für uns tut. Offensichtlich hat die Evolution hier ein gesundheitsförderndes Belohnungssystem subkortikal verankert, das wohlwollende soziale Beziehung belohnt auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Ich bin sicher, auch Sie werden viele Manifestationen dieses in uns schlummernden Beziehungssystems um sich herum entdecken und besser nutzen können.
Mit der Zeit dürfte die in einer SES-förderlichen Gesellschaft eine latente oder gar manifeste Ängstlichkeit und Misstrauen sowie der Stress im sozialen Kontext allgemein abnehmen und umgekehrt ein prophylaktisch förderlich entspannt-freundlicher psychophysischer Grundmodus auch die Krankenkassen und damit auch die PolitikerInnen erfreuen. Es bestätigt sich auch die durch verschiedene Religionen vermittelte Behauptung, dass das, was ich anderen tue, auch wieder zu mir zurückkehrt, die Frage ist somit, ob ich mir bewusst bin, was ich tue. Denn die Freundlichkeit oder das Gegenteil kommen früher oder später wieder zurück. Und Hypnotherapie ist einmal mehr eine Body & Mind-Disziplin, welche das Potential hat, viele gesundheitsfördernde und prosoziale Fähigkeiten ganzheitlich zu trainieren und zu stimulieren. Auch hier gilt üben, üben, üben und üben. Gemäss Porges hat bereits für Etwas danken eine aktivierende Wirkung auf das SES. Es ist mir somit ein Vergnügen, Ihnen für das Lesen dieses Artikels herzlich zu danken.